Familiendramen werden zu surrealen Odysseen, Coming-of-Age-Geschichten verschmelzen mit dystopischen Visionen, und auf den ersten Blick alltägliche Begegnungen entpuppen sich als tiefgründige Gesellschaftsanalysen. Die ausgewählten Spielfilme greifen auf gewohnte Erzählmuster zurück, umso überraschender sind die Richtungen, die sie einschlagen.

Mit den Heldinnen und Helden verlieren auch wir langsam den Boden unter den Füßen, erleben mit, wie eine vertraute Umgebung zunehmend fremd erscheint. Ihre Orientierungslosigkeit fängt die Kamera mal aus nächster Nähe ein, mal aus der Distanz. Ein Klassenzimmer wird zum klaustrophobischen Gerichtssaal, Großstädte verwandeln sich in bedrohliche Labyrinthe, die Weite einer nordischen Landschaft wirkt erschlagend.

Die Kinoleinwand wird zur Bühne existenzieller Fragen: Wie definiert man Zugehörigkeit in einer Welt fließender Identitäten? Welche Rolle spielt die Vergangenheit, wenn die Gegenwart ungreifbar wird? Und wie navigiert man durch ethische Dilemmata, wenn die moralischen Koordinaten an Schärfe verloren haben? Große Themen, die auf Augenhöhe mit den Figuren verhandelt werden.

Dabei haben alle Filme eine Gemeinsamkeit: Sie schlagen sich auf die Seite ihrer Heldinnen und Helden, finden Bilder für ihre Seelenzustände und manchmal auch für deren Überwindung. In einer Zeit, in der globale Erschütterungen unser Verständnis von Normalität herausfordern, suchen sie keine einfachen Antworten. Vielmehr laden sie uns ein, gemeinsam mit den Figuren zu zweifeln, zu hinterfragen. Und sie erinnern uns daran, dass im Kino wie im Leben die wertvollste Erkenntnis oft in den Momenten der Unsicherheit entsteht.

Willkommen zu einem Wettbewerb voller leidenschaftlicher Filme, die uns auffordern, die Welt – und vielleicht auch uns selbst – mit anderen Augen zu sehen.

Thomas Hailer

Künstlerischer Leiter, Nordische Filmtage Lübeck